Opferwahn
Psychthriller © by Lucie Gordon
Prolog
Der schwarze Porsche 911 Turbo raste auf der schmalen kurvenreichen Landstraße in Richtung Moritzburg. Dichter tief hängender Morgennebel nahm dem Fahrer jede Sicht, aber er rammte das Gaspedal seines Wagens erbarmungslos ins Bodenblech. Der Motor heulte auf. Tief brummend durchbrach das Fahrzeug die Dunstbänke. Wie unförmige Dschins kamen sie von den Feldern und waberten über die Straße. Dan wusste, dass ein winziger Augenblick Unkonzentriertheit auf dieser elenden Buckelpiste ihn sofort ins Jenseits katapultieren konnte. Ein eisiger Schauer mischte sich mit dem Schweiß auf seiner Haut. Wenn ihm jetzt einer entgegen kam … Er verdrängte den Gedanken und fokussierte auf die fünf Meter verwaschenen Asphalt vor seinem Auto, die er gerade so einsehen konnte. Es war nicht die reguläre Zufahrt zu den oberen Waldteichen, auf der er sich befand, und er hoffte hier würde so früh an einem Sonntag morgen niemand unterwegs sein – außer ihm und Jane.
In ein paar Minuten musste sie kommen. Bis dahin würde er sein hübsches kleines Versteck bezogen haben und auf sie warten. Bei dieser Vorstellung schmierte sich ein Grinsen in sein Gesicht. In den vergangenen Wochen, in denen er sie observiert hatte, war sie niemals später als sieben Uhr auf ihren Jogging-Parcours um den Johann-Georgen-Teich gegangen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen. Das war gut. Berechenbar. Dan liebte Berechenbarkeit. Sie war das A und O für das Gelingen von Plänen. Und für diesen hatte er sich ganz besondere Mühe gegeben.
Nicht, dass er sich zu irgendeiner anderen Gelegenheit Ablauffehler gestattet hätte; es war nur so, dass es heute perfekt sein musste.
In der letzten Kurve vor der Parkplatzeinfahrt drosselte er die Geschwindigkeit und erhaschte zwischen den alten hochstämmigen Kiefern einen Blick auf den dreckigen Camper, der hier seit Wochen abgestellt war. Er fragte sich wem dieser „Schandfleck“ gehören mochte. Noch nie war er dem Besitzer begegnet, noch hatte er hinter den dreckigen Camperwänden irgendwelche Lebensgeräusche ausmachen können. Verschlissene rotbraun karierte Vorhänge baumelten verknittert hinter den staubblinden Scheiben und erwehrten jeden Blick ins Innere.
Einmal hatte er sich den Ventilstand notiert um herauszubekommen ob der Schrotthaufen bewegt wurde. Das war nicht der Fall, aber da er ein Nummernschild besaß, schien er nicht „entsorgt“ worden zu sein. Dan ließ seinen Turbo hinter die Rostlaube rollen. So konnte Jane sein Auto von der Straße aus nicht sehen, wenn sie auf den Parkplatz einbog. Sie würde ihren kleinen Ford wie immer bei der Tannenschonung parken und den längeren der beiden Joggingpfade nehmen, – den, am Seeufer entlang.
Sie hatte noch nie die andere Strecke genommen. Er konnte getrost bis hinter die erste Wegbiegung vorauslaufen, zu der Trauerweide mit dem mannsdicken knorrigen Stamm. Ihre Zweige hingen bis ins Unterholz. Hinter ihnen war man praktisch unsichtbar, auch wenn man sich nur einen Schritt weit weg vom Weg befand. Oft hatte er dabei schon mit klopfendem Herzen die Luft angehalten, wenn Jane so nahe an ihm vorbeigekommen war, dass er nur seine Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.
Aber heute war der Tag an dem er nicht nur davon träumen würde. Heute würde er es tun. Er war gespannt auf das Mienenspiel in ihrem Gesicht, wenn sie ihn erkannte. Er mochte sie, besonders ihre braunen Kulleraugen und das Grübchen im Kinn, das erschien wenn sie lachte. Die Vorstellung wie sie ihre vollen Lippen um den Hals einer Sprudelflasche schloss, verursachte ihm augenblicklich eine Erektion. Sie hatte die Angewohnheit lasziv die Augen zu schließen, wenn sie schluckte.
Als sie am Tag des Kliniksportfestes in ihren weißen Shorts und dem Tank Top so unmittelbar neben ihm stand, dass er die Hitze fühlen konnte, die ihre Haut abstrahlte, hatte er sich beinahe vergessen. Kleine Schweißperlen waren glitzernd an ihrem Hals herunter gekrochen und zwischen ihren Brüsten verschwunden. Er hatte verdammt hart mit sich ringen müssen um nicht aus der Rolle zu fallen und sie an Ort und Stelle abzulecken. Gott sei Dank hatte ihn einer der Pathologen in ein Gespräch verwickelt, sodass er sich darauf konzentrieren musste. Dan stöhnte laut. Er liebte diese Frau. Abgöttisch! Und sie liebte ihn. Daran war nicht zu zweifeln, auch wenn er sich wünschte, sie würde es ihm deutlicher zeigen. Sie war eben nicht wie die anderen Schlampen, die er bisher kennen gelernt hatte. Sie warf sich nicht jedem gleich an den Hals. Was war daran verwerflich? Es machte Spaß sie erobern zu müssen. Es war ihr Spiel für die Öffentlichkeit. Echte Klassefrauen waren es wert mitzuspielen. Sie liebte Geschenke wie alle Weiber und so machte er sie ihr. Da waren beispielsweise die Rosen, die er an ihren Arbeitsplatz legte, obwohl dabei für ihn die Gefahr bestand, erwischt zu werden. Das war das Letzte, was er brauchen konnte, aber er riskierte es trotzdem. Er war süchtig danach sie heimlich zu beobachten, wenn sie seine Geschenke fand. Ein paar Mal hatten sich dabei ihre Blicke gekreuzt. Sie wurde tatsächlich rot wie ein Schulmädchen. Natürlich wusste sie von wem die Rosen waren, aber sie ließ es sich nie anmerken.
Heute hatte er sich für sie ein anderes Geschenk ausgesucht. Er griff hinter seinen Sitz, zog grinsend das kleine weiche Päckchen hervor und stopfte es sich in die Gesäßtasche. Er hatte es beim Orion-Versand erstanden. Die Beschreibung war vielversprechend. Sie würde es mögen, wenn er es für sie benutzte. Gestern hatte er es schon probeweise anprobiert und dabei einen extraterrestrischen Orgasmus bekommen. In Kürze würde sich das mit ihr zusammen noch steigern lassen.
Dan hievte seine Einsneunzig aus dem Sitz und stieß sich wie immer den Schädel am Dach des flachen Gefährts an. Leise fluchend rieb er sich die Stirn. Dieser Porsche war eigentlich zu niedrig für ihn, aber wenn er damit im Geschwindigkeitsrausch über die Autobahn preschen konnte, dann fühlte er sich großartig. Ein winziger Druck mit dem kleinen Finger an der Lichthupe genügte, um die anderen Autofahrer in Scharen aus der Spur zu scheuchen – das entschädigte ihn für tausend Gelegenheiten, bei denen man ihn auf die hinteren Plätze verwiesen hatte.
Der Porsche war pures Prestige und besaß die unglaubliche Fähigkeit, zu kompensieren, was die Natur ihm angetan hatte. Liebevoll strich er über den Lack, bevor er los rannte.
Auf dem Waldpfad standen nach den schweren nächtlichen Gewittern der letzten Tage noch die Pfützen. Doch hier und da brach die Morgensonne bereits durch das Blätterdach der Baumkronen und in stachligen Brombeersträuchern glitzerten die Tautropfen in den Netzen der Kreuzspinnen, wie Brillanten. Ein Amselpärchen badete in einer wassergefüllten Senke; irgendwo in der Ferne kläffte ein Hund.
Dan verharrte regungslos. Er mochte Köter nicht.
Überhaupt mochte er keine Haustiere. Tiere waren da, um gegessen zu werden, eine andere Daseinsberechtigung hatten sie für sein Empfinden nicht. Dort, wo er herkam, hatten die Menschen genug damit zu tun, für ihre eigene Nahrungsaufnahme zu sorgen. Falls sich solch ein stinkender Köter oder eine vorwitzige Katze in dreister Form anbot, dann gab es eben Fleisch zum Reis. – So einfach war das.
Dan horchte angestrengt in die Richtung, aus der das Gekläffe kam. Es schien als entfernte es sich nach Süden hin. Er hatte demnach keine Begegnung zu befürchten. Linkerhand von ihm reflektierte das Wasser durch das mannshohe Schilf, das die Sicht auf die kleine Insel versperrte, auf der Wildgänse brüteten. Der See war zum Baden nicht geeignet. Man kam nur in wenigen schmalen Buchten bis ans Wasser heran. Der Grund des Gewässers war mit meterdickem Schlamm bedeckt und Schlingpflanzen wogten knapp unter der Wasseroberfläche.
Dan rannte am Ufer entlang bis zu seinem Versteck unter der Weide und legte sich auf die Lauer. Es dauerte nicht lange bis sich leichte, schnelle Schritte näherten. Er wusste, dass es Jane war. Das Messingschild an ihrem Autoschlüssel klingelte leise. Als das Geräusch unmittelbar hinter der Wegbiegung zu hören war, trat er vor ihr auf den Weg und breitete seine Arme aus. Sie bremste ihren Lauf abrupt ab, sah ihn erschrocken an und verharrte reglos.
„Ich habe auf dich gewartet, Jane. Du bist spät heute“, sagte er und schaute schmollend auf die Uhr. Er näherte sich ihr.
Janes Blicke bohrten sich in sein Gesicht. Sie trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
„Was soll das, Doc? Was tun Sie hier? Gehen Sie mir aus dem Weg!“
Dan lächelte und nickte wissend. Das Spiel für die Öffentlichkeit! Er schaute sich um.
„Okay, es ist niemand hier“, sagte er beschwichtigend, „wir können uns den Quatsch sparen, Liebes.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und fasste nach ihrem Haar, doch sie schlug nach ihm.
Er konnte es nicht glauben. Sie stand vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt, bereit wieder zuzuschlagen. In diesem Moment ging ihm ein Licht auf. Klar. Seine Züge entspannten sich. Das uralte Ritual der Weiber. Das kannte er. Sie gaben sich unnahbar. In Wirklichkeit hofften sie, dass man sie hart ran nahm. Aber das war in Ordnung. Er würde mit ihr spielen. Es machte mehr Spaß, wenn sie sich ein bisschen zierte. Das steigerte sein Verlangen umso mehr. Was für ein Rasseweib. So wollte er sie. Unvermittelt riss er sie an sich. Ihr Schrei fuhr ihm durch Mark und Bein. Erschrocken lockerte er seinen Griff. Sie schlug um sich wie ein Kung Fu Kämpfer. Er konnte sie kaum bändigen. Dann gelang es ihm, sie mit ihrem Rücken an seinen Bauch zu pressen und er schleppte sie vom Weg. Sie zappelte wie eine Marionette und fluchte wie ein Landsknecht. Schweiß brach ihm aus und ihre schmerzhaften Tritte gegen seine Schienbeine machten ihn rasend. Vor ihnen lag der kleine Bootsschuppen im Schilf. Dan schleppte sie bis zum Ende des Stegs, der zu ihm führte und ließ sie los. Jetzt saß sie in der Falle, die kleine Wildkatze – umgeben von sumpfigem Morast, in dem sie versinken würde, wenn sie sprang. Die Warntafeln, die rings um den See auf die Gefahr hinwiesen, konnten ihr nicht entgangen sein.
Grinsend bewegte er sich langsam auf sie zu.
„Sie sind wahnsinnig, Doc!“, keuchte sie.
„Was, um Gottes Willen, soll das hier werden?“
Wahnsinnig nannte sie ihn! Und was sollte wieder diese Nummer mit dem ´Sie’ und dem ´Doc’?
„Jane, lass dieses lächerliche …“, weiter kam er nicht, denn ein messerstichartiger Schmerz traf sein Knie. Ihm schwanden fast die Sinne. Sein Bein knickte weg. Sie hatte seine Kniescheibe getroffen. Ungläubig richtete er sich auf. Seine Augen wurden zu Schlitzen. Dieses Aas! Er ahnte, dass es nicht sein Knie war, nachdem sie gezielt hatte, aber da sie klein und zierlich war … Das würde sie bereuen! Dan zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sein Knie brannte wie Feuer.
„Warum hast du mich getreten?“, fragte er gespielt sanft und ging einen Schritt auf sie zu. „Ich liebe dich!“
Zum Zeichen seiner Loyalität streckte er ihr die offenen Handflächen entgegen – eine Geste, die sie verstehen würde, – so hoffte er.
„Was ist nur in dich gefahren? Ich weiß gar nicht …“
„Keinen Schritt weiter, Doc!“, schrie sie außer sich. Wieder diese schrille, giftige Stimme! Er schüttelte sich. So kannte er sie nicht. Es war als wäre sie … wäre sie jemand anderes. Misstrauen keimte in ihm auf. Ihr Zittern, ihre geweiteten Augen. Das war pure Angst. Er konnte es förmlich riechen, aber er verstand es nicht. Urplötzlich fröstelte ihn. Ein eisiger Luftzug strich über seinen Rücken. Etwas um ihn herum veränderte sich. Die Temperatur sank. Die Luft schien wie elektrisch geladen zu sein. Die Haare auf seinen Armen und Beinen richteten sich auf. Wie aus heiterem Himmel peitsche plötzlich eine Sturmböe eine Schneise in das dichte Schilf hinter dem Bootssteg und in demselben Moment zerriss ein Monsterblitz den Himmel. Dan schloss seine Lider für eine Sekunde. Rote Kreise tanzten auf seiner Netzhaut, und als er die Augen wieder öffnete, war die Frau verschwunden. Mit einem Satz war er am Ende des Stegs – dort wo sie soeben noch gestanden hatte. Er schmiss sich auf den Bauch und starrte gebannt auf die Stelle, an der jetzt Schlamm nach oben quoll. Ihre Hände tauchten auf, dann ihr Gesicht. Sie hielt es parallel zur Wasseroberfläche und schnappte verzweifelt nach Luft. Leider versank sie mit den Füßen tiefer und tiefer im schlammigen Untergrund je mehr sie sich dagegen wehrte, und sie inhalierte Wasser. Ihre Hände klammerten sich an die Schilfgerten, die allerdings wegbrachen. Dan beobachtete fasziniert ihren Kampf. Als ihr Gesicht wieder auftauchte, hustete sie sich die Lunge aus der Brust und gurgelte um Hilfe. Er konnte sie ersaufen lassen wenn er wollte. Sie war anderthalb Meter zu weit weg gesprungen. Die Pfosten des Stegs waren so nah und doch so unerreichbar für sie. „Arme Jane!“
Er konnte hier liegen bleiben und zuschauen bis ihre Kraft sie verlassen würde, als Rache dafür, dass sie sein Knie verletzt hatte. Den Schmerz fühlte er noch immer. Vielleicht starb sie auch an einem Stromschlag, wenn der Blitz ins Wasser schlug. Dan sah in den Himmel. Eine gespenstische Beleuchtung lag über dem See. Blauschwarze Wolken filterten das Sonnenlicht. Sie schienen an ihren Rändern auszufransen und Feuer zu speien. Grelle Entladungen folgten jetzt Schlag auf Schlag, begleitet von unmittelbarem ohrenbetäubendem Krachen. Bisher war noch kein Tropfen gefallen, doch das schien sich in diesem Moment zu ändern. Er spürte die ersten Treffer schmerzhaft auf seinem Rücken. Kirschgroße Hagelkörner prasselten vom Himmel. Er musste hier verschwinden. Dan sah auf die Frau im Wasser. Ihre Bewegungen wurden schwächer.